Du betrachtest gerade Neues aus der Schreibwerkstatt

Neues aus der Schreibwerkstatt

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrag veröffentlicht:10. Dezember 2021

Der Flügelschlag

Es heißt, wenn in Südamerika ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, entsteht ein Wirbelsturm am anderen Ende der Welt. Es heißt, dass wir Menschen nicht die Kraft, nicht die Macht und die Mittel haben, Dinge vorauszusehen. Was die Zukunft bringt, weiß allein sie. Doch wir können uns immer wieder, dank unseres Vorstellungsvermögens, die Frage stellen: Was wäre wenn?

Es fehlt uns also an Macht. An Kraft und an den Mitteln, vorherzusagen, was für Folgen unser jetziges Handeln hat. Wie tritt der Klimawandel also in Erscheinung? Die Erde wird wärmer, der Eisbär ist gefährdet, sicher. Doch viel wichtiger ist doch die Frage: Wie wird der Klimawandel in Erscheinung treten?

Es ist, als wäre er ein Jemand. Ein Mann vielleicht, nicht alt, nicht jung. Braunes Haar, zum Scheitel hin zu einer leichten Welle geföhnt. Akkurat. Ein brauner Polyesteranzug. Ein Pelz über den Schultern. Seine Miene ist verschlossen. In seinem Kopf jedoch herrscht Chaos. Niemals nach außen hin zeigen, stark bleiben, durchsetzend. Seine Miene verschlossen, in seinem Kopf jedoch…
Nicht mit einem Winken seines Fingers kann er den Weltuntergang einläuten, nicht mit einem Nicken seines kantigen Kopfes, nicht mit einem Zwinkern seines kühlen Auges. Dazu hat er nicht die Macht. Doch er kann es langsam tun. Er kann jede erdenkliche Vorbereitung treffen, die getroffen werden muss. Er kann die Erde langsam zerstören. Er kann ihr immer wieder Erholungspausen gewähren, er kann sie aufatmen lassen, unter all den Abgasen. Er kann ihre Wunden heilen, um dann noch tiefere zu schlagen, er kann die Eisschollen flicken, der Erde die Tränen mit seinem Spitzentaschentuch von den Wangen tupfen. Baumwolle. Weiß.

Déjà vu. Erinnerungstäuschung. Die Illusion, etwas zu kennen. Jemanden zu kennen. Einen Ort, eine Situation, einen Geschmack, einen Geruch. Den Geruch von Abgasen. Den Geschmack von vertrocknetem Gras und geschmolzenem Eis. Die Situation von Ratlosigkeit, von Hilflosigkeit, von Gleichgültigkeit. Den Ort wo Regenwald Plantagen weicht. All das kennt man. Und man kennt auch den Klimawandel.

Eine Theorie besagt, dass die Dinosaurier nicht plötzlich starben, nicht augenblicklich, als ein Meteor eingeschlagen oder ein Vulkan ausgebrochen ist. Sie besagt, dass sie es langsam taten. Dass sie sich nicht anpassen konnten. Sie wurden überrascht von dem, was sich angebahnt hatte. Sie starben langsam. Ob sie vor ihrem Aussterben in seine harte Miene blickten, ob sie in seinen düsteren Augen nach Mitleid suchten, keiner vermag dies mit Sicherheit zu sagen. Doch ebenso kann keiner widersprechen. Klimawandel gab es also schon. Die Eiszeit. Was ist an diesem anders? Ist es nicht im Grunde wie mit einem Virus, das die Welt überrascht, doch sie keinen Unterschied zwischen ihm und den schon da gewesenen sehen will? Es gibt immer Zweifler, Leugner, welche, die ihn nicht erkennen. Auch du erkennst ihn oftmals nicht. Vermutlich liegt das an seinem Allerweltsgesicht. Er ist nichts Besonderes. Solche wie ihn gab es schon. Wenn du ihm begegnest siehst du meist weg. Warum kann ich nicht sagen, auch ich mache es so, auch andere machen es so, so gerne sie ihn doch begreifen würden. Ihn erleben, um ihn zu verstehen.

Er reist viel. Ein viel beschäftigter Mann, mit seinem überschaubaren Gepäck. Von seinen Reisen kommt er verändert zurück. Als hätte er neue Kraft tanken müssen. Wenn er fort ist, gönnt er uns eine Pause. Dann können wir Luft holen. Doch manchmal spielt er bloß mit uns.
Er sieht zu, wie wir nachlässig werden. Denken wir, wir sind ihn los, für eine Weile wenigstens, gibt es wichtigere Themen. Dann redet man nicht mehr über ihn. Man vergisst ihn schnell. Man sieht ihn ja nicht oft.
Die ganze Welt redet über ihn. Die ganze Welt und doch niemand.
Manchmal sitzt er in seinem Arbeitszimmer.
Er sitzt in seinem schwarzen Ledersessel, glättet die Falten seines Anzuges und greift nach seinem Glas, das er auf dem Tropenholztisch abstellt. Gern fährt er mit dem Finger über die Jahresringe. Aus seinem Glas trinkt er Whiskey. Oder Gin. Was er trinkt ist für ihn nicht weiter von Bedeutung, Hauptsache, es ist kalt. Eiswürfel hat er im Grunde stets zur Hand, und wenn nicht, gönnt er der Erde eine Erholungspause, während er sich unbemerkt, wenn die Augen nicht länger auf ihn gerichtet sind, neue beschafft.
Gern sieht er zu, wie das Eis in seinem Glas langsam schmilzt. Wie das Wasser in den Gin übergeht, wie aus den Würfeln langsam Kugeln werden. Bis sie nicht mehr sind. Trinken tut er ihn nie. Das könnte er sich unmöglich leisten. Falls ihm die Eiswürfel ausgehen, muss er sich Neue beschaffen. Wenn unsere Augen nicht länger auf ihn gerichtet sind. Gin wäre nicht im Sinne der Sache. Er muss unbemerkt bleiben.

Er mag es warm. So wie ihm sein Getränk kalt gefällt, genießt er gern die Hitze. In seinen Erholungspausen. Er mag die sengende Sonne und er mag kahle Landschaften. Wälder gefallen ihm nicht. Höchstens das Holz schätzt er. Denn im Wald ist es schattig. Er empfindet keine besonderen Emotionen, sagt man. Würde ein Küken auf der Erde liegen, er ginge vorbei. Schweine gefallen ihm nicht. Bloß ein Steak schätzt er. Kühe gefallen ihm nicht. Bloß ihr Leder mag er.
Er ist ehrgeizig, das muss man ihm lassen. Er weiß, wo er sich in zwanzig Jahren sieht. Doch er ist auch intelligent. Seine Pläne hält er stets geheim. Seine Vergangenheit kennt niemand. Und doch die ganze Welt.

Meine Damen und Herren,
Was für ein Wesen hat diese Kreatur also aufgezogen? Was für ein Wesen ist imstande ein Nichts so zu kontrollieren, zu manipulieren, dass es bald dieses Wesen kontrolliert. Manipuliert.
Das Wesen sind wir. Und das Etwas ist er. Der Klimawandel. Vielleicht wurde er nicht von uns Menschen geboren, doch zumindest adoptiert. Er wurde von uns gefüttert, damit er eines Tages groß und stark werden würde, wir haben große Hilfsbereitschaft gezeigt. Jeder hat einen Teil zu seiner Erziehung beigetragen. Und als er zu groß wurde, wie eine Schildkröte, die bald zu groß für ihr Terrarium ist, als er zu groß wurde, wollten wir ihn wohl aussetzen. Einfach irgendwo zurücklassen, bloß fern von uns, von unserem Leben, unserer Welt. Wir wollten unsere Kinder schützen, ihre Zukunft sichern. Doch er war wie ein Kuckucks-Küken. Als er für die, die ihn genährt hatten zu groß wurde, war es zu spät. Er schubste die Anderen aus dem Nest. Dank seiner Überlegenheit.
Fakt ist, im Grunde ist es nicht wichtig, warum es den Klimawandel gibt. Es ist nicht wichtig, woher er kommt, warum er gerade die Erde trifft und auch nicht unbedingt, wie er sich äußert oder äußern wird, zumal man auf viele dieser Fragen bereits Antworten gefunden hat. Wichtig ist nur, was wir gegen ihn tun können. Noch bleibt Zeit, um Kissen unter dem Nest zu platzieren. Vielleicht haben wir den Zeitpunkt verpasst, in dem wir ihn unter den anderen hätten erkennen können, doch gerade deshalb ist jetzt keine Zeit zu verlieren. Er ist ehrgeizig. Er ist gierig. Sein Haus ist gebaut aus Bongossi-Holz, seine Kleider aus Kunstfasern, aus dichtem Fell. Das Leder seiner Schuhe hält er stets sauber. Es glänzt. Wie das Eis in seinem Whiskey. Oder Gin.
Doch wer hat ihn so erzogen? Selten erziehen sich ein Nichts selbst. Ausnahmen bestätigen die Regel, doch dies hier ist keine Ausnahme.
Er ist wie ein Schmetterling. Keine seiner Bewegungen läutet den Weltuntergang ein. Kein Nicken seines kantigen Kopfes, Kein Zwinkern seines kühlen Auges. Auch er hat nicht die Macht dazu. Doch er kann es langsam tun.
Jede seiner Bewegungen hat Auswirkungen, die wir nicht sehen können, noch nicht. In zu ferner Zukunft liegen sie. Doch sein Handeln ist unser Handeln.
Was wäre also, wenn wir uns endlich, wenn wir alle uns endlich eingestehen würden, dass wir den Kuckuck ernährt haben. Dass er jetzt zu groß geworden ist. Doch wichtiger: Was wäre, wenn wir endlich sehen würden, dass es Lösungen gibt? Wir dürfen ihn nicht mehr aus den Augen lassen, er ist zu gerissen. Wir dürfen Erholungspausen nicht mehr annehmen. Wir müssen stets wachsam bleiben. Es mag anstrengend klingen, auch anstrengend sein, das will ich nicht leugnen, doch die Alternativen sind anstrengender. Unangenehmer. Kissen können wir noch unter das Nest legen. Und wenn wir die Küken aufgefangen haben, kümmern wir uns um den Kuckuck. Wir können es schaffen, doch nur, wenn wir es wollen.
Es heißt, wenn in Südamerika ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, entsteht ein Wirbelsturm am anderen Ende der Welt. Es heißt, dass wir Menschen nicht die Kraft, nicht die Macht und die Mittel haben, Dinge vorauszusehen. Was die Zukunft bringt, weiß allein sie. Doch wir können uns immer wieder, dank unseres Vorstellungsvermögens, die Frage stellen: Was wäre wenn?
Wir können unser Bestes geben und nicht mehr. Weniger natürlich, aber sind wir nicht schnell genug, kommen die Kissen zu spät.
Vielleicht werde ich mit dieser Geschichte keine Geschichte schreiben, doch wichtig ist bloß, dass ich diese Geschichte geschrieben habe.
Und blicken wir das nächste Mal in sein Gesicht, das uns seltsam bekannt vorkommt, ist es mehr als eine Illusion, eine Erinnerungstäuschung. Es ist die Wirklichkeit.
Es heißt, wenn in Südamerika ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, entsteht ein Wirbelsturm am andere Ende der Welt. Doch was wäre wenn?

 

Clara Grundner, 9c